Nun ist es amtlich: Die bisherige branchenübliche Beurteilung der Lebenserwartung von Bodenbelägen ist nicht praxisgerecht. Mit dem Urteil 13 U 46/14 des Oberlandesgerichts Celle wird die vom IFR Köln schon länger vertretene These gestützt, dass bei der Beurteilung der Nutzungserwartungszeit eines Oberbodens die gesamte Fußbodenkonstruktion berücksichtigt werden muss. Die Betrachtung der technischen Eigenschaften des Oberbodens, losgelöst vom Rest des Aufbaus, ist demnach nicht zielführend.
Hält Betonwerkstein länger als Kautschuk?
Zum besseren Verständnis geben wir den Sachverhalt des Urteils, der der Aussage zur Nutzungserwartungszeit zugrunde liegt, stark vereinfacht wieder: Ein zwölf Jahre altes Krankenhaus wurde um einen Anbau erweitert. Geplant war, wie im ersten Bauabschnitt auch, Betonwerksteinplatten zu verlegen. Da es Probleme mit der Höhenlage im Übergang zwischen Alt- und Neubau gab, wurde alternativ die Verlegung eines Kautschuk-Bodenbelags vorgeschlagen und diese höhengleich zum Oberboden des Bestandsgebäudes ausgeführt. Nach der Fertigstellung meldete der Bauherr Schadensersatzansprüche betreffend des vermeintlichen Minderwerts des verlegten Kautschukbodens im Vergleich zu den geplanten Betonwerksteinplatten an. In seiner Klage führte er an, dass der Kautschukboden eine geringere Qualität und somit eine kürzere Lebensdauer aufweise als Betonwerksteinplatten. Diesen Punkt ließ das Gericht durch ein Gutachten klären.
Hierzu wurden die betreffenden Flächen in Augenschein genommen und ein einwandfreier Zustand der Kautschuk-Bodenbeläge festgestellt. Im Zuge des Ortstermins konnte auch ein Blick auf die zwölf Jahre alten Betonwerksteinplatten geworfen werden. Diese zeigten vereinzelt Beschädigungen durch Risse oder Abplatzung. Flächig betrachtet konnte zudem festgestellt werden, dass bereits etliche Platten ausgetauscht werden mussten.
Lebenserwartung des Estrichs beachten
Das Gericht formulierte im Beweisbeschluss sinngemäß die Frage, ob der verlegte Kautschukboden nur eine Nutzungsdauer von 15 Jahren aufweise, der geplante Betonwerkstein jedoch von durchschnittlich 75 Jahren. Dies konnte eindeutig verneint werden. Das Gericht schloss sich dieser Ansicht in seinem Urteil an und formulierte unter anderem: Der Sachverständige ist davon ausgegangen, dass ein Kautschukfußboden theoretisch eine durchschnittliche Lebensdauer von 30 Jahren aufweise, also doppelt so lange, wie von der Klägerin behauptet. Zwar habe Betonwerkstein eine deutlich längere durchschnittliche Lebensdauer von 70 Jahren. Jedoch hänge die Lebenserwartung des Bodens in der Praxis von dem konkret verwendeten Untergrund ab. Der hier als Untergrund verwendete schwimmende Estrich weise seinerseits eine Lebensdauer bei mittlerer Beanspruchung von nur 25 Jahren auf. Dies führe dazu, dass unabhängig von dem aufgebrachten Belag – also hier Kautschuk oder Betonwerkstein – ein Austausch des Estrichs bei Erreichen seiner Lebensdauer erforderlich sei, was wiederum zwingend einen Austausch auch der Oberbeläge zur Folge habe. Deshalb führt nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens die – isoliert betrachtet – längere Lebensdauer des Betonwerksteins nicht zu einem technischen Minderwert des Kautschukfußbodens.
Schicksalsgemeinschaft
Das Gericht begründete sein Urteil zudem mit der Aussage: „Insbesondere hat der Sachverständige plausibel erläutert, dass und warum die Lebensdauer des schwimmenden Estrichs infolge der darunterliegenden weichen TrittschalIdämmung und der aus seiner Belastung folgenden Biegung begrenzt ist und der Estrich daher einem Verschleiß unterliegt, der sich mittelbar auch auf den Oberbelag auswirkt. Der Sachverständige hat die Verbindung zwischen den Schichten eines Bodenbelages anschaulich als ‚Schicksalsgemeinschaft‘ bezeichnet und dies plausibel mit der auf dem Estrich liegenden Flächenlast sowie den darüber hinaus auftretenden punktuellen, dynamischen und Radbelastungen begründet.“
Erklärung: die in über 25 Jahren gewonnenen Erkenntnisse des IFR Köln zur Lebensdauer schwimmender Estriche werden auch von Peter Kunert, Sachverständiger für das Estrichlegerhandwerk, geteilt. In einem Fachaufsatz (siehe unten) stellt er kompetent dar, dass schwimmende Zementestriche in Klinikgebäuden eine Nutzungserwartungszeit von 25 bis 30 Jahren zulassen.
1. Neubau
Der statt der geplanten Betonwerksteinplatten verlegte Kautschuk-Bodenbelag macht einen einwandfreien Eindruck
2. Neubau
Die Lebenserwartung des Kautschuk-Bodens entspricht dem des Beton-werksteins, da bei beiden der Estrich das schwächste Glied im Bodenaufbau darstellt
3. Bestand
Bereits nach zwölf Jahren Nutzung zeigten die Betonwerksteinplatten Risse und Ausbrüche
4. Bestand
Die sich dunkler abzeichnenden Platten wurden bereits ersetzt. Mit weiteren Instandhaltungsmaßnahmen ist zu rechnen.
5. „Schicksalsgemeinschaft“
Der gesamte Konstruktionsaufbau eines Fußbodens hält nur so lange wie seine „schwächste“ Schicht
Das sagt die Norm
Exemplarisch für die undifferenzierte Auflistung der technischen Lebensdauer von Fußböden kann die „Sammlung amtlicher Texte zur Wertermittlung von Grundstücken – WertR 76/96“, 6. Auflage 1997, Wolfgang Kleiber, Ministerialrat im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, genannt werden.
Einen fundierten Einblick in die Nutzungserwartungszeit von Estrichen gibt der Fachbeitrag „Zur Nutzungs- und Lebensdauer von Estrichen im Wohnungs- und Objektbau und von Nutzböden im Industriebau“ von Peter Kunert, Sachverständiger für das Estrichleger-Handwerk, erschienen in der Estrichtechnik & Fußbodenbau, Ausgabe 9/10-2015.
Fazit
Eine Fußbodenkonstruktion ist immer ein Schichtenaufbau (siehe Grafik), bei dem der Oberboden den Abschluss bildet und der direkten Nutzung ausgesetzt ist. Dennoch unterliegen auch die darunterliegenden Schichten einer stetigen Beanspruchung. Daher kann ein Oberboden in seiner bestimmungsgemäßen Funktion nie länger genutzt werden als die tragenden und verbindenden Schichten des gesamten Aufbaus. Letztlich bestimmt das schwächste Glied in der Fußbodenkonstruktion sowie die tatsächlich vorhandene Belastung die zu erwartende Lebensdauer des Oberbodens.
Die schlichten Bewertungen nach statistischen Mittelwerten – wie sie bis heute an der Tagesordnung sind – entsprechen nicht der Realität. Vorhandene Listen sollten nur als Anhaltspunkt verwendet werden und sind um den Zusatz der gegenseitigen Abhängigkeit im Schichtenaufbau zu ergänzen. Dies gilt auch für die sogenannten Wertminderungstabellen der Sachverständigenverbände.