Warentypische Eigenschaften

In unserer Kindheit bauten wir Baumhäuser aus Brettern und nicht aus Minecraft-Würfeln, sammelten Blätter und Früchte statt Likes auf Social-Media-Plattformen und gründeten unser Wissen auf dem gesunden Menschenverstand und nicht auf Werbebotschaften. 2021 wusste in Nordrhein-Westfalen nur ein Drittel der Schüler der Klassenstufen sechs bis neun, dass die Sonne im Osten aufgeht, ein weiteres Drittel hatte gar keine Ahnung, der Rest tippte wahlweise auf Süden, Westen und Norden (Quelle: Jugendreport Natur 2021, Dr. Rainer Brämer).

Die sinkende Allgemeinbildung ist aber nicht nur ein Problem der jüngsten Generation, auch ältere Semester neigen dazu, immer seltener den eigenen Verstand zu benutzen. In der Folge wächst Jahr für Jahr die Bedeutung der Beratung des Kunden durch das Handwerk. Nicht so sehr über die Vielfalt des Angebotes, sondern verstärkt über die Grenzen eines Produktes, seine besonderen Merkmale und die warentypischen Eigenschaften. Ein teilfiktiver Fall soll erklären, was wir meinen.

Löcher im Kork?

Eine junge Familie bezieht ihre erste Eigentumswohnung und lässt in mehreren Zimmern auf einer Gesamtfläche von 60 Quadratmetern einen hellbeigen Kork-Fertigparkett-Boden mit Hartwachs-geölter Oberfläche schwimmend verlegen. Die Abnahme erfolgt ohne Beanstandungen, doch bereits nach den ersten Monaten der Nutzung werden Oberflächenbeschädigungen in Form von Löchern reklamiert. Da über die Ursache und die Frage, in wessen Verantwortungsbereich diese fällt, keine Einigung erzielt werden kann, landet der Fall vor Gericht, das zur Klärung des Sachverhaltes einen Gutachter beauftragt.

Keine Auffälligkeiten

Beim Ortstermin erscheinen die Flächen bei gebrauchsüblicher Betrachtung einwandfrei ohne Auffälligkeiten. Die Eigentümer weisen jedoch auf dunkle, unregelmäßig geformte Vertiefungen in der Korkoberfläche des Bodenbelages hin. Diese zwischen wenigen Quadratmillimetern bis zu einem Quadratzentimeter großen „Stellen“ zeigen sich wiederkehrend auf allen verlegten Flächen.

AUF DEN ERSTEN BLICK
Die Optik des Kork-Fertigparketts mit Kork-Edelfurnier-Oberfläche wirkt einwandfrei.

Vergleich mit Rückstellmuster

Auf Nachfrage übergeben die Eigentümer drei Originaldielen des Korkfertigparketts, die seit der Verlegung ungenutzt im Keller lagerten. Augenscheinlich weisen diese – ebenso wie die bereits genutzten Dielen – die gleichen Vertiefungen auf. Weiterhin geben die Eheleute zu Protokoll, dass ihnen mit der Rechnung eine Reinigungs- und Pflegeanleitung übergeben wurde und sie die entsprechenden Pflegemittel beim Bodenleger gekauft haben. Letztlich weisen sie den Sachverständigen noch explizit auf zwei weitere „Stellen“ in der Küche hin.

DIE REKLAMATION
Die Auftraggeber bemängeln „Löcher“ in der Kork-Oberfläche. Diese sind allerdings herstellungsbedingt und können als produkttypische Textur bezeichnet werden.

Produkttypische Textur

Bei den zuletzt gezeigten „Stellen“ handelt es sich einerseits um dellenartige Vertiefungen, wie sie durch Aufstandsflächen von Möbeln verursacht werden. Andererseits sind es scharfkantige, halbrunde Eindruckstellen, die vom Radius her zu den dünnen Metallbeinen der Küchenstühle passen, die mit Hartkunststoff-Gleitern ausgestattet sind. Alle anderen Vertiefungen sind natürliche Erscheinungsmerkmale der Kork-Oberfläche.

SELBST VERSCHULDET
Die Eindruckstellen (links) wurden durch Möbelaufstandsflächen verursacht, die Einkerbung (rechts) durch den kleinen, scharfkantigen Kunststoffgleiter eines Küchenstuhles.

Wie aus den Verkaufsunterlagen hervorgeht und vor Ort bereits festgestellt, besteht die Oberfläche des verlegten Kork-Fertigparketts aus einem sogenannten Kork-Edelfurnier. Diese circa 2,5 mm dicke Decklage wird in der Herstellung als Furnier von Blöcken verpresster, rustikaler Korkgranulate geschält. Diese Furniere weisen korktypische Unregelmäßigkeiten in Form der in diesem Fall bemängelten „Löcher“ auf, die zudem im Veredelungsprozess der Oberfläche – wie hier mit Hartwachsöl – unterschiedlich dicht gefüllt werden. Das Erscheinungsbild des verlegten Kork-Fertigparketts sowie der drei unbenutzten Dielen kann als produkttypische Textur eines Kork-Edelfurniers bezeichnet werden und ist als solches nicht zu beanstanden.

Hinweispflicht nachgekommen

Für den Profi ist die Sache klar: Die beiden „Stellen“ in der Küche hat der Nutzer selbst zu verantworten. Auch deshalb, weil in der ihm vorliegenden Reinigungs- und Pflegeanleitung darauf hingewiesen wird, dass „geeignete Filzgleiter unter den Möbeln anzubringen sind, um Kratzer und Eindruckstellen zu vermeiden.“ Alle anderen „Stellen“ sind für den Profi ein Naturmerkmal des Korks, eine produkttypische Textur oder eben eine warentypische Eigenschaft.

Aber reicht das, um den Bodenleger aus der Verantwortung zu nehmen? Aus der Gerichtsakte geht hervor, dass dem Ehepaar zur Auftragserteilung ein Produkt-Flyer vorlag. Darin werden unter anderem folgende Aussagen getroffen: „Hochwertiger Korkboden in natürlichem Design“ oder „Alle Dekore sind in natürlicher Korkstruktur gehalten“ sowie „Aus den gepressten Blöcken wird Korkparkett geschnitten – jedes für sich ein Unikat“.

Der Richter folgte dem Gutachten und sah auch beim Bodenleger keine Versäumnisse in seiner Hinweispflicht dem Kunden gegenüber.

Wissenswertes

In den Erläuterungen zur DIN 18365 „Bodenbelagarbeiten“ und DIN 18299 in der 6. Auflage 2004 heißt es unter anderem: „Eine warentypische Eigenschaft ist kein Mangel, sondern eine unbeeinflussbare Eigenschaft, die produktionsbedingt ist und aufgrund der Herstellungstechnik, Warenkonstruktion und Materialzusammensetzung entsteht.“

Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) heißt es im § 633 Sach- und Rechtsmangel:
(1) Der Unternehmer hat dem Besteller das Werk frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen.
(2) Das Werk ist frei von Sachmängeln, wenn es die vereinbarte Beschaffenheit hat. Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist das Werk frei von Sachmängeln,
1. wenn es sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte, sonst
2. für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Werken der gleichen Art üblich ist und die der Besteller nach der Art des Werkes erwarten kann.

Fazit

Der provokante Einstieg soll nicht suggerieren, dass jeder Kunde wissen muss, wie ein Korkboden hergestellt wird – dafür sind Sie, liebe Leser, die Experten. Vielmehr soll er verdeutlichen, dass heutige Kunden zwar oft gut informiert erscheinen, aber dennoch einfache Zusammenhänge nicht erkennen können oder wollen. Vielleicht hat sich das Paar im beschriebenen Fall zuerst für einen Designbelag interessiert und ist später erst auf Kork gekommen, vielleicht hat es anfangs eine gleichmäßigere Massivkork-Oberfläche ins Auge gefasst und sich dann aber doch für die edelfurnierte Variante entschieden.

Wie auch immer, wichtig ist, dass Sie Ihren Kunden möglichst umfangreich informieren, auch über Sachverhalte, die Ihnen ganz geläufig sind. Geizen Sie nicht mit Informationsmaterial und dokumentieren Sie alle zur Beratung einfließenden Unterlagen auf der Rechnung.

Und vergessen Sie nicht: Sie sind der Profi, Ihr Kunde bestenfalls Amateur!